Zwischen Zazen, Samu und Selbstbegegnung – mein Volontariat im Felsentor

Die knapp neun Wochen als Volontärin im Felsentor waren der Auftakt meines einjährigen Sabbaticals, einer lang ersehnten Auszeit: einmal weg vom Schulalltag als Gymnasiallehrerin an der Nordsee und hin zu einem anderen, bewussteren Lebensrhythmus, getragen von intensiver Meditationspraxis, Samu und Kontemplation. Ich wollte endlich viel Zeit zum Schreiben von Gedichten haben und zugleich suchte ich nach einer neuen Qualität von Zeit, Verbundenheit und Naturerleben. Der mystische Ort selbst, hoch über dem Vierwaldstättersee und fast schwebend, schien dafür wie geschaffen. Dass diese Wochen mich nicht nur inspirieren, sondern nachhaltig bewegen und verändern würden, ahnte ich beim Ankommen nicht.

Es waren intensive 62 Tage. Neben dem Zazen wurde die Samu – die achtsamen Arbeitsdienste im Haus, Garten, Café, in der Küche und bei den Tieren – zu einem wesentlichen Teil meiner Meditationspraxis. Diese feste Tagesstruktur mit dem frühen Wecken durch den Han gab mir Halt und trug mich durch alles, was ich dort erleben durfte. Es gab viele Stunden, in denen sich Putzen, Falten, Nähen, Schneiden oder Tragen wie ein direktes Gespräch mit der Gegenwart anfühlten: Tätigkeiten, die unscheinbar wirken, aber gerade dadurch eine Tiefe öffnen, die ich vorher oft nicht bemerkt habe.

Eine meiner stärksten Erfahrungen entstand beim Zupfen der Kräuter für die Teemischungen. Etwas scheinbar so Einfaches – eine Bewegung, die sich hunderte Male wiederholt – begann, sich zu verwandeln. Als wüsste etwas in mir, dass hier etwas Wesentliches geschieht, bevor der Kopf nachkommt. Beim Zupfen des Wermuts etwa merkte ich, wie sich die Wahrnehmung vertieft, wenn man ihr Raum gibt. Das direkte Natur(Er)Leben stellte mir viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte und wollte, sondern nur spürte. Die Erkenntnis, die ich in reiner, unmittelbarer Naturerfahrung gewinnen konnte, versuchte ich in Versen zu vertiefen. Ein Gedicht ist für mich wie ein Koan: Es spricht in Bildern, scheinbaren Paradoxien oder Andeutungen. Es sucht fortwährend nach lebendigen Wörtern für die Erfahrung der Verbundenheit aller Dinge. Es zwingt den Lesenden nicht zur logischen Erklärung, verlangt kein Verständnis, sondern öffnet einen Raum für Nichtwissen. Die Reaktion auf einen Text wie auch auf einen Koan kann alles Mögliche sein: ein Nicken, ein Augenzwinkern, ein tiefer Atemzug oder auch nichts von all dem. Das Naturerleben ist der erste Spiegel: rein, unmittelbar, sinnlich. Die Verse sind der zweite Spiegel: Sie werfen das Erlebte zurück in eine andere Form und zeigen darin Neues. So kann sich mein Erkennen noch weiter vertiefen, weil ich die Erfahrung nicht nur erlebt, sondern in Sprache verwandelt habe. In der Natur ist der Moment flüchtig, wortlos. Im Gedicht kann ich ihn fassen, aber nicht als Besitz, sondern als Ort des Verweilens. Sprache wird Teil meiner sinnlichen Erfahrung. So wird aus einem Augenblick beim Zupfen des Wermuts eine Quelle der Erkenntnis, zu der ich später immer wieder zurückkehren kann und wo ich die sinnliche Erfahrung immer und immer wieder nachspüren kann. Ein Kreislauf aus Natur, Erfahrung, Erkenntnis, Sprache, Erfahrung, Erkenntnis… Ein zutiefst beglückender, lebendiger Prozess, den ich im Felsentor sehr oft erleben konnte.

Doch zu meiner Zeit gehörten nicht nur Inspiration und Leichtigkeit, sondern auch Phasen von Unsicherheit, Reaktivität und Schmerzerfahrungen. Gerade hier, fern von meinem vertrauten Umfeld, traten alte Muster hervor, von denen ich glaubte, sie längst losgelassen zu haben. Eine entzündete Hand, körperliche Erschöpfung und Selbstzweifel zwangen mich immer wieder zum Innehalten und dazu, meine Grenzen anzuerkennen. Andere Tage forderten emotionale Geduld und Akzeptanz: Reizbarkeit, alte Glaubenssätze, der Wunsch, meine Arbeit „gut“ machen zu wollen. Auch das Zusammenleben mit anderen Menschen aus dem Felsentor war ein lehrreicher Spiegel. Überforderung, Verletzlichkeit und andere Aspekte des Egos traten zuweilen deutlicher hervor. Gleichzeitig entstanden gerade dadurch Momente tiefer, heilsamer Verbundenheit – in Gesprächen von Herz zu Herz mit Menschen aus der Gemeinschaft oder mit meiner Zimmergenossin und Freundin Judith, die mir in dieser Zeit besonders ans Herz gewachsen ist.

Schon in den ersten Tagen wuchs der Wunsch, mein Erleben anders als sonst schriftlich festzuhalten. In einem Schreibexperiment begann ich, jeden Tag in exakt 108 Wörtern zu erfassen. Die Begrenzung wurde kein Korsett, sondern ein Gefäß – ein Raum für Verdichtung, für Wesentliches, für Klarheit. Qualitäten, die auch den Zen-Buddhismus prägen. Die Zahl 108 mit ihrer spirituellen und kulturellen Tiefe wurde für mich zu einem inneren Metronom. Nicht wegen ihrer Symbolkraft allein, sondern wegen der Haltungen, die sich in ihr bündeln: Sammlung, Wiederholung, Hingabe an das, was sich zeigt, Verbundenheit, Wandlung und Maß – als Balance zwischen Leere, Fülle und Form.

Mein Volontariat im Felsentor liegt mittlerweile über drei Monate zurück, die Herzensqualität, die ich dort erfahren habe, spüre ich weiterhin, und auch das Schreibexperiment führe ich hier fort. Die letzten drei Monate meines Sabbatjahres werde ich wieder als Volontärin und Kursgast im Felsentor verbringen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus einem stillen, aber klaren Grund: Weil ich dort gespürt habe, dass ich etwas Wesentliches berühren konnte und dies weiterwirken möchte. Was wird sich diesmal in der Stille zeigen?

Ewa Beck, Volontärin am Felsentor im Sommer 2025

 
 
Stiftung Felsentor